Gastbeitrag von Dr. Daniel Mullis
Verunsicherung und Unruhe sind Folge der Krisen der letzten fünfzehn Jahren. Die Zukunft ist ins Wanken geraten und die Menschen suchen nach Halt in haltlosen Zeiten. Sie finden ihn in der imaginierten Normalität der vergangenen Aufstiegsgesellschaft. Es ist eine Vergangenheit ohne lästige Klimakrise und Transformationsdruck, sie ist homogener und klarer strukturiert. Das ist es, was die AfD mit ihrem Kulturkampf, mit ihrem Versprechen „Deutschland. Aber normal!“ politisiert und mit dem sie Menschen emotional beheimatet. Damit bindet sie Menschen über politische Grenzen hinweg an sich, und das ist auch der Grund, warum beides, der Kulturkampf der Unionsparteien und die Hoffnung, dem Aufstieg der Rechten mit Aufklärung zu begegnen, in die Sackgasse führen.
Was mich bei den Demokratieverdrossenen immer ein bisschen verwirrt, ist, wieso sie glauben, dass die ihnen missfallenden Umstände ausgerechnet von einer Rechtsaussen-Partei gelöst werden könnten.
Ich kann Demokratieverdrossenheit bis zu einem Punkt sogar verstehen - Politik ist ein Sumpf, es wird viel geschwafelt und wenig gehandelt, und wenn gehandelt wird, kommt oft nur halbgares raus (um es wirklich mal ganz profan und simplistisch auszudrücken - natürlich ist die Realität wesentlich komplexer). Aber dann aus Protest bei AfD und Co. das Kreuz machen hilft auch nichts - die stellt nämlich für den spätkapitalistischen Status Quo, der ja oft die Hauptursache dieser Missstände ist, keine Bedrohung dar (dafür aber für Minderheiten und jegliche progressiven Errungenschaften der letzten 50 Jahre). Wer will, dass sich die ‘bürgerlichen’ Parteien mal so richtig ins Hemd machen, der muss links wählen, dann werden sich diese Parteien nämlich Gedanken machen, wie sie diese Wähler zurückbekommen. Die ‘bürgerliche Mitte’ stand dem rechten Spektrum schon immer näher als dem linken.
Alles was neu und fremd ist ist nicht das, worauf man sich früher berufen hat und sicher fühlte. Die rechten Parteien berufen sich auf genau das und malen ein Bild wie früher alles war und wie es heute bitte sein soll. Keine Veränderung ist bequem.
In Wirklichkeit war es aber früher gar nicht so wie diese Parteien es beschreiben. Es wird hier ein total verklärtes Bild der Vergangenheit gezeichnet.
Genau hier liegt aber der Hund begraben: wo ist denn die linke Partei, die diese Leute gezielt anspricht und ihnen eine ernsthafte Perspektive bietet ohne sich in internen Grabenkämpfen selbst zu zerfleischen oder sich in Nebenschauplätzen zu verlieren?
Ich bin der Meinung dass der Erfolg der extremen Rechten auch sehr viel mit der Schwäche der linken Partei(en) zu tun hat.
Nun ja, von einer linken Partei wird eine gewisse Kompetenz erwartet, die bei rechten eben nicht erwartet wird. Hier wird gern mit zweierlei Maß gemessen. Eine rechte Partei kann sich in internen Rangeleien verlieren und totalen Kompetenzmangel aufweisen und wird trotzdem gewählt, während das bei einer linken Partei eben zu Kritik von allen Seiten führt.
Ob der Erfolg der rechtsextremen mit der Schwäche der Linken kausal verbunden ist, weiß ich jetzt nicht so genau. Überzeugte Linkswähler schauen sich das Theater an, knirschen mangels Alternativen mit den Zähnen, aber wählen deshalb nicht gleich AfD, weil die Alleinstellungsmerkmale der letzteren nun mal jeglichen linken Prinzipien widersprechen.
Und wie viele dieser “Seiten” sind rechte und rechtskonservativ geprägte Medien? 90%? 95?
Überleg’ dir mal was da Ursache und Wirkung ist. Meinst du linke Parteien sind inhärent schwach und unfähig weil sie Links sind?
Es gibt in Deutschland keine linken (gemeint: sozialdemokratischen) Parteien mehr. Die SPD ist eine gemäßigte CDU, und die Linke ist die SED.
Korrekt, aber inwiefern ist das eine Antwort auf die Frage?
Die “linken” Parteien Deutschlands sind schwach, weil sie nicht gewählt werden, und sie werden nicht gewählt weil sie keine Linken mehr sind. Du fragtest nach Ursache und Wirkung.
Mal meine zwei Gedankengänge dazu (vorrangig für Ostdeutschland):
Damit will ich NICHT sagen, dass die Parteien eine wählbare Alternative sind oder es sich Wähler damit rausreden dürfen, nicht aktiv eine rechtsextremistische Partei zu wählen, erklärt aber momentan das aktuelle Problem und vielleicht ein wenig komplexer als “Muh, sind vielleicht doch alles Nazis”.
EDIT: @notapantsday@feddit.de hat einen weiteren, wichtigen Punkt genannt: Wo sind denn gerade die echten, linken Alternativen? Die einzige relevante Partei “Die Linke” hat es gerade so in den Bundestag geschafft und ist momentan wohl dabei sich aufzulösen, anstatt eine wählbare Alternative zu sein. Also bleibt nicht mehr viel an “relevanten Parteien”.
Danke für die durchdachte Antwort. Es ist schon bezeichnend, dass 33 Jahre nach den ersten gesamtdeutschen Wahlen Koalitionen mit der Linken immer noch verpönt sind, es bei der AfD aber gerade mal zehn Jahre gedauert hat, bis die ersten ‘bürgerlichen’ Parteien mehr oder weniger laut über eine Zusammenarbeit nachdenken.
Was das Protestwählen angeht, würde ich allerdings anmerken, dass ein Linkswähler, der von den Linken Idealen und Positionen überzeugt ist, sicher nicht aus Protest jetzt sein Kreuz bei den Faschos macht. Aber dass es genug Leute gibt, die nur ‘Gewinner’ wählen wollen, bestreite ich auch nicht.
Das verstehe ich doch. Hab auch mal die Linke gewählt und mir würde nicht im Traum einfallen, das Kreuz bei den Faschos zu machen. Dennoch war die Linke für viele Leute “die Ostpartei”, nach der Wende. Man hatte damit sogar einen der höchsten Anteile an Abgeordneten, die eine “ostdeutsche Herkunft” haben. Das fällt jetzt weg. Stattdessen hat man jetzt die AFD als Ersatz gefunden, die die Lücke gerne gefüllt haben und nun eben als Ersatzostpartei dient. Um das ganze mal mit Zahlen zu stützen: Sachsen erstellt alle zwei Jahre einen Sachsen-Monitor zur aktuellen Situation im Freistaat. Schaut man sich Seite 30 der letzten Befragung von 2021/2022 an, wählen gerade mal 11 Prozent die AfD aus Überzeugung. Über 42 % sind Wechselwähler. Klar ist nur eine Studie unter vielen, aber das Thema ist halt nicht unterkomplex. (PS: aus der Studie geht auch hervor, dass die Anzahl an Ressentiments gegen Ausländer und die Ausländerfeindlichkeit in Sachsen zurückgegangen ist. Auch wenn es trotzdem noch auf einem viel zu hohen Niveau ist). :/
Die “linkeste” Partei die man von den “großen” wählen kann sind die Grünen. Die sind aber nicht links sondern eher Mitte. Die restlichen Parteien sind alle ein gutes Stück rechts/konservativer
Eigentlich verstehe ich eh nicht warum man sich wie die Amis auf die wenigen Parteien beschränkt die mal Prozente bekommen haben, es gibt volt, die Humanisten, die Piraten und noch mehr kleine Parteien die man wählen kann. (gut bei den Piraten hat jemand die Landtagswahl verhaun)
Ihr dürft auch gerne was anderes wählen als das was in der Bild steht.
Aber genau das meine ich doch. Solange in aktuellen Umfragen und Parteiergebnissen nicht “Sonstige” bis zu drei Prozent mit auflisten, hast du meiner Meinung nach ein Wahrnehmungsproblem. Der Großteil macht sich doch sonst erst vor der Wahl Gedanken was er wählt und bemüht hoffentlich sogar nochmal den Wahlomat.
Zudem spielen diese alternativen Parteien im aktuellen Alltag keine Rolle. Hier in Dresden laden die Grünen, die CDU, manchmal SPD und früher mal die Linken zu sporadischen Themen als Diskussion ein. Im Umland macht dies nur die AfD. Die ist präsent, spricht vor Ort mit den Leuten, die sich wiederum dadurch gehört fühlen. Solange auch das nicht besser wird, oder man eine andere Strategie findet (die “Propagandaidee” finde ich als Marketingoffensive von @TheBawbe83@discuss.tchncs.de nicht schlecht), wird sich meiner Meinung nach wenig ändern.
Aber warum wählt man heutzutage nicht mehr nach politischen Werten sondern nach Populismus. Die Leute müssen doch merken, dass es so nicht weitergehen kann.
Was hältst du von ranked choice voting? Da könnte man dann auch getrost eine Kleinpartei wählen ohne sich dem taktischen Kalkül beugen zu müssen. Für mich prinzipiell eine super Idee, nur in der Praxis ist da der bittere Umstand, dass die etablierten Parteien sich wohl kaum für eine Wahlrechtsreform einsetzen werden, die das Potential birgt die eigene Macht zu untergraben.
Unwichtige Randbemerkung:
›Mitte‹ in ›bürgerliche Mitte‹ ist orthogonal zur politischen Mitte. Sie bezeichnet eigentlich die ökonomische Mitte, ist also kein Euphemismus für »politisch rechts, aber zu feige, das zuzugeben«.
Weil die nicht den Eindruck zu machen versuchen dass sie tatsächlich für Demokratie stehen. Wenn du keinen Bock mehr auf Demokratie hast, macht es Sinn die Partei zu wählen die das auch so sieht.
Weil erst kommen die Instinkte, dann die Ratio. Wenn du’s mit Existenzängsten zu tun hast dann wird nicht lange gedacht (und das ist auch bei dir so).
Und Pi mal Daumen wäre das für einige Parteien jetzt sogar fatal was diese Existenzängste angeht Versprechen zu machen – das haben sie früher schon getan und dann in der Praxis nicht geliefert, geglaubt wird also kein Wort. Taten müssen her um den Menschen wieder eine Perspektive zu geben dann laufen sie auch nicht Fata Morganas nach.
Man könnte z.B. damit anfangen als SPD, SPD, nicht zu versuchen das Berliner Enteignungsreferendum zu untergraben. Bisschen grummeln “hätten wir anders gemacht aber klar setzen wir um” ist in Ordnung, alles was darüber hinausgeht spielt Faschisten in die Hände.
Du kannst halt nur da mitlaufen wo schon wer läuft. Eine ernstzunehmende Linke gibt es in Deutschland nicht.
Kannst du diesen Zirkus denn wirklich guten Gewissens und aus voller Überzeugung als “Demokratie” bezeichnen?
Ich denke, man konnte in meinem Post ziemlich gut erkennen, wie ich die in Deutschland (und weitestgehend im globalem Westen) praktizierte Form der Demokratie einschätze.
Wenn aber die Alternative eine protofaschistische Diktatur unter einem Trump, Bolsonaro oder den Kaspern der AfD ist, dann ist mir der Zirkus doch lieber. Da hat man wenigstens ab und zu was zu lachen.
Ich kann dich gut verstehen. Möchte aber einwerfen, dass der systemische Mangel an Demokratie genau das ist, was letztlich zum Protofaschismus a la AFD und Co. führt.
Edit: ich bin innerlich jeweils sehr zerstritten, ob ich Wählen bzw. Abstimmen (Schweiz) soll oder nicht. Oft entscheide ich mich zähneknirschend doch noch dafür, obwohl ich weiss, dass es eigentlich nichts bringt, sondern das Unheil am Horizont (bei weitem nicht nur die Nazis) nur weiter hinauszögert.